Im linearen Recruiting ist die Candidate Journey in der Regel eine Reise in vier Etappen: Stellen- bzw. Kandidatensuche, Bewerbung, Auswahlverfahren und Entscheidung. Egal, ob der Kandidat schlussendlich eingestellt wird, eine Absage erhält oder selbst das Angebot ausschlägt, seine Reise ist an dieser Stelle zu Ende. Für HR bedeutet das: neues Spiel, neues Glück. Bei der nächsten Vakanz beginnt der zeit- und kostenintensive Trip durch den Recruiting Funnel wieder von vorn mit dem Ziel einer erfolgreichen Einstellung, die erneut das Ende des Prozesses markiert. Und so weiter und so weiter. Die dabei in aufwendigen Kampagnen gewonnenen Leads geraten in Vergessenheit, noch bevor die Tinte auf dem Arbeitsvertrag trocken ist. So bleibt wertvolles Potenzial auf der Strecke.
Aber in Zeiten, in denen es immer schwieriger wird, qualifizierte Bewerber zu finden und zu überzeugen, werden Unternehmen auf dieser eigetretenen Start-Ziel-Geraden nicht das Rennen machen: Ihr Recruiting ist zu langsam, zu unflexibel und zu teuer. Noch ärgerlicher wird es, wenn sich neue Mitarbeiter bereits in den ersten zwölf Monaten entschließen, den Job wieder zu wechseln. Heutzutage ist das keine Seltenheit. Fängt das Recruiting an dieser Stelle wieder bei null an, wurde völlig umsonst in die Besetzung investiert. Dabei könnte man sich die erneute Suche sparen, denn geeignete Kandidaten waren ja längst gefunden. Nur hat man sie mit dem Prädikat „Second Best“ ziehen lassen und den Kontakt abgebrochen.
Second-Best-Kontakte sind ein gutes Argument dafür, dass die Candidate Journey auch nach einer Absage weitergehen sollte. Denn Kandidaten, die es in ein fortgeschrittenes Stadium des Auswahlprozesses schaffen, scheitern zumeist nicht an essentiellen k.o.-Kriterien. Hier sind vielmehr Kleinigkeiten das berühmte Zünglein an der Waage. Mit etwas mehr Berufserfahrung, etwas weniger Gehalt und einer zügigen Verfügbarkeit unterscheidet sich am Ende der perfektere von den perfekten Anwärtern auf den Job. Im Hinblick auf kommende Vakanzen sind die Second-Best-Kandidaten jedoch nach wie vor wertvoll für das Unternehmen – viel zu wertvoll, um sie aus den Augen zu verlieren.
Der klassische Second-Best-Kandidat ist kein unbeschriebenes Blatt Papier mehr für das Unternehmen. Er wurde ja bereits auf Herz und Nieren geprüft. Die dabei gesammelten Informationen ermöglichen eine Beziehungspflege auf persönlicher Ebene, mit individualisierten, spannenden Inhalten. Ein Talentpool bietet die notwendige Struktur, um die Leads systematisch zu erfassen, zu organisieren und mit zielgerichteten Kampagnen auch weiterhin für das Unternehmen zu begeistern. Gleichzeitig ermöglicht er es allen Personalentscheidern im Unternehmen, auf dieselben Daten zurückzugreifen und sie nach den jeweiligen Anforderungen zu filtern. Bei Bedarf können Talente so viel schneller mobilisiert und eingestellt werden, als es der lineare Recruiting Funnel ermöglicht.
Aber nicht nur für die Zweitplatzierten im Bewerbungsrennen geht die Reise weiter. Auch neu gewonnene Mitarbeiter spielen eine durchaus wichtige Rolle für das künftige Recruiting und sollten daher in der Ansprache nicht vernachlässigt werden. Denn im Rahmen des Employer Branding fungieren sie ab sofort als authentische Botschafter des Arbeitgebers und können auf diese Weise einen wichtigen Beitrag für die Gewinnung weiterer Talente leisten. Auch hier helfen systematische Ansätze, z.B. Mitarbeiterempfehlungsprogramme und intuitive Plattformen, über die Content bereitgestellt und in den persönlichen Netzwerken geteilt werden kann.
Darüber hinaus gelten die eigenen Mitarbeiter auf dem internen Talentmarkt, der in vielen Unternehmen zunehmend an Bedeutung gewinnt, auch weiterhin als Kandidaten. Eine Candidate Journey ist also mit der Einstellung längst nicht abgeschlossen. Die interne Mobilität und das persönliche Streben nach individueller beruflicher Weiterentwicklung werden das Recruiting in den kommenden Jahren stark prägen. Recruiter schauen sich zunächst in den eigenen Reihen um, bevor sie teure externe Alternativen wählen. Die Candidate Journey muss daher auch intern weitergedacht und Mitarbeiter als Leads wahrgenommen werden.